10 Tage inmitten einer Indischen Familie leben: Wie soll man dieses Abenteuer nur in Worte fassen?
Wie viele Worte werde ich alleine brauchen, um die Wohnung authentisch zu beschreiben, damit euch, liebe Leser, ebenfalls der Kardamom-Geruch in die Nase steigt, den die duftenden Gerichte in den unterschiedlichen Aluminiumtöpfen auf dem weissgrauen Fliesenboden verströmen, wenn sich alle Familienmitglieder dort drei Mal täglich zum Essen niederlassen?
Wie viele Worte werde ich allein brauchen, um zu beschreiben, wie angenehm kühl sich Luft aus der Klimaanlage auf der Haut anfühlen kann, wenn nachts bei 28℃ Aussentemperatur vier Personen plus Hund Teddy auf Kokosmatten in einem einzigen Zimmer auf dem Boden liegen und schlafen?
Wie viele Worte werde ich alleine brauchen, um die Schönheit der Menschen zu beschreiben, die mich hier umgeben, die langen schwarzen Lockenhaare von Shamili und Durga, der wunderschön leuchtende Grünton der Saribluse der Mutter Jothi und die braune Hautfarbe ihres zarten Nackens, der aufgrund des tiefen Rückenausschnitts sichtbar ist?
Wie viele Worte werde ich alleine brauchen, um den langen blütenweißen Lunghirock von Vater Govindaraj zu beschreiben, der seine langen Beine elegant umschlingt, was zusammen mit seinem nackten Kugelbauch am Morgen ziemlich witzig aussieht?
All diese tausende und abermals tausende Puzzlestücke meiner Eindrücke mit Worten zu beschreiben ist schier unmöglich, das wird mir gerade klar. Hier erreichen wir schlichtweg die Grenzen dessen, was Worte leisten können. Diese Geheimnisse werden sich nur demjenigen offenbaren, der das kostbare Geschenk erhält, in der Reihe dieser Familie leben zu dürfen. Und doch werde ich versuchen, euch mit Bildern und meinen Eindrücken mit auf die Reise in dieses Abendteuer zu nehmen.
Grundregel # 1 in Indischen Familien : Null Privatsphäre
Eines der charakteristischsten Merkmale Indischer Familien ist, dass man sehr schnell und mit aller Wucht folgendes unausweichliche Gesetz akzeptieren muss: Es gibt Null Privatsphäre 😀😀 Im Laufe der 10 Tage lerne ich schnell, dass die einzige Privatsphäre, die man inmitten einer Indischen Familie hat, diejenige ist, wenn man im Badezimmer die Türe hinter sich verriegelt und dort, wenn es gut läuft, 5 Minuten seine Ruhe hat.
Nach meiner Ankunft in der 3-Zimmer Wohnung von Familie Govindaraj, die sich in einem gelben dreistöckigen Mehrfamilienhaus in einer Seitenstrasse nahe des Tiruvanmiyur Strandes in Chennai befindet, schafft es Durgas Erläuterung der Schlafsituation für die kommenden 10 Tage direkt in die Kategorie Kulturschock 😁:
Durga und ich stehen in einem Nebenräume, die vom Wohnzimmer mit einer eigenen Türe abgetrennt sind. In dem Raum steht ein schönes Holzbett und es liegt zudem an der gegenüberliegenden Wand eine dicke Steppdecke ausgerollt auf dem Boden. Durga hat sie extra für mich gekauft, damit ich mich wohlfühle. Ich kombiniere also, basierend auf meiner Gewohnheit als Europäerin, dass das wohl das Gästezimmer sein muss. Ich nehme an, dass die Steppdecke noch auf das Bett gelegt wird und ich dann in dem Holzbett schlafen werde. Alleine. Nur ich, das Bett, die Steppdecke, die 2 Schränke und der kleine Schreibtisch in diesem Zimmer. Ich frage also zur Überprüfung meiner todsicheren Annahme, dass ich hier gleich meinen Rucksack auspacken und mich gemütlich einrichten kann, ob ich in dem Holzbett schlafen werde. Da erwidert Durga nebensächlich: “Nein, in dem Bett schläft mein Vater”.
Ich lache, weil diese Antwort überhaupt nicht in meinem Szenarienkatalog an erwarteten Antworten vorkommt und runzle irritiert die Stirn. Sicherlich habe ich meine Frage nicht verständlich gestellt und hake nach, wie sie das meint. Es könnte ja auch sein, dass sie mich gerade veräppelt, vielleicht ist das ein Indischer Sinn für Humor, den ich noch nicht kenne. Das sind jedenfalls die zwei einzigen logischen Erklärungen, schlussfolgert mein Gehirn.
Wie man in Indien schläft: Eine Schritt-für-Schritt Anleitung für Ausländer
Durga strahlt mich an, die Freude angesichts meiner Ankunft steht ihr immer noch derart ins Gesicht geschrieben, es ist berührend. Sie beugt sich ausgelassen unters Bett und zieht eine hellbraune Kokosmatte hervor. Sie legt die Matte zwischen Bett und Steppdecke und erklärt mir, indem sie ihre Worte mit grossen Handgesten untermalt: “Hier schläft mein Vater (sie zeigt auf das Bett), hier schläft Shamili und meine Mutter (sie deutet zweimal auf die Kokosmatte) und hier schläfst du (sie zeigt auf die dicke Steppdecke). Das ist der einzige Raum in der Wohnung mit Klimaanlage.” Schlagartig wird mir die Bedeutung dieser unerwarteten Information klar und ich lache etwas hysterisch. Durga macht keine Scherze. Das kann ich ihr ansehen. Sie ergänzt: “Teddy schläft auch bei euch. Nur ich schlafe in einem anderen Raum, da ich morgens um 3:30 Uhr aufstehe und meditiere und niemanden stören möchte.”
Ich verziehe mein Gesicht zu einem schiefen Lächeln und eine Reihe aufgeregter Gedanken schießen durch meinen Kopf: Ich kann nicht glauben, dass die Familie auf dem Boden schläft. Auf einer dünnen Kokosmatte auf dem kalten harten Fliesenboden! Das ist doch total unbequem. Ich kann auch nicht glauben, dass es dem Vater vorbehalten ist, auf dem einzigen Bett zu schlafen, während alle Frauen zu dessen Füssen auf dem Boden schlafen müssen. Ich ahne, welch patriarchale Familienordnung hier herrscht und finde den Gedanken ziemlich unerträglich. Das alles habe ich mir so ganz und gar nicht vorgestellt. Ich will ein eigenes Zimmer!
Der Praxistest
Ich spule mal etwas in der Geschichte vor: Ich entscheide, dem ganzen Set-up eine Chance zu geben, schließlich bin ich ja hier, um meinen kulturellen Horizont zu erweitern. Ich möchte das Ganze mindestens eine Nacht testen und am nächsten Morgen auswerten, wo die Erfahrung auf einer Skala von 0 bis 10 landet (0 extrem unerträglich, ich brauche ein Hotel) und 10 (am liebsten würde ich für den Rest meines Lebens so schlafen).
Am nächsten Morgen wache ich auf und bin überrascht: Tatsächlich habe ich gut geschlafen, der Raum war trotz aller Menschen und dem Hund mucksmäuschenstill, keiner war am Schnarchen, der eine Furz des Vaters inmitten der Nacht ist verschmerzbar, und ich bin extrem dankbar für die Klimaanlage und die Steppdecke ist wirklich super bequem. Ich gebe der Erfahrung sehr überrascht eine 5!
Im Laufe der Woche erzählt mir Shamili, dass sie früher eine Zeitlang diejenige Person war, die auf dem Holzbett geschlafen hätte, da sie aber Rückenschmerzen bekommen hat, schlafe sie jetzt lieber auf dem Boden und seitdem sind ihre Schmerzen verschwunden. Dies wäre sogar auf Anraten eines Arztes geschehen. Wir besuchen im Laufe der Woche einige Verwandte und Bekannte der Familie in der Umgebung im Stadtviertel und ich stelle erstaunt fest, dass alle Familien das exakt gleiche Set-up beim Schlafen haben: die ganze Familie schläft in einem einzigen Raum auf Kokosmatten, nur ein Bett steht an der Seite und abgesehen vom Schrank gibt es keine Möbel, da sich der Fliesenboden nachts mit Menschen füllt. Ich muss sagen, in indischen Familien sollte man wirklich keine grossen Berührungsängste haben (oder allzu viel Wert auf Privatsphäre legen) 😉.
Das Fazit:
- Es ist gut, wenn man eine Skala hat, auf der man neue Erfahrungen einstufen kann und mit dieser Skala vorschnelle Abwehrreaktionen verhindert, insbesondere wenn man gerade fremde Kulturen kennen lernt
- Privatsphäre ist ein Privileg
- Nur weil für mich etwas selbstverständlich ist, heisst das noch lange nicht, dass es das auch für andere Menschen auf diesem Planeten selbstverständlich ist
- Mir gefällt die Nähe, die sich eine Familie durch die gemeinsame Schlafstätte schenkt, z.B. wenn Shamilis Arm nachts zu mir rüberwandert oder sie meine Hand vor dem Einschlafen streichelt
- Es ist berührend, in einem Raum voll liebgewonnener Menschen zu schlafen, ihre Atmung zu hören, ihr Vertrauen zu spüren, sich gegenseitig so schutzlos auszuliefern und Teil davon sein zu dürfen
Alles Liebe,
Eure Salome
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